Ein Schlüsselmoment für Europa

26.06.2017

Beim deutsch-französischen Wirtschaftstag diskutierten hochrangige Vertreter aus Politik und Wirtschaft über neue Impulse für Europa, die aktuelle Wirtschaftslage und die Digitalisierung als Chance.

Ein US-Präsident, der bisherige Funktionsweisen der Zusammenarbeit in Frage stellt, der bevorstehende Brexit, ein Neuanfang in Frankreich durch die Wahl eines jungen, proeuropäischen Präsidenten: Die veränderten welt- und europapolitischen Vorzeichen warfen ihre Schatten auf den deutsch-französischen Wirtschaftstag der AHK im Conseil économique, social et environnemental (CESE) in Paris.

Befragt zu neuen Impulsen für Europa erklärte der für die Brexit-Verhandlungen zuständige EU-Kommissar Michel Barnier, die deutsch-französische Kooperation erscheine aktuell „immer notwendiger und zugleich immer weniger ausreichend“. Seit zehn Jahren sei die europäische Führung vor allem damit beschäftigt, Krisen zu managen, die wie die Finanzkrise auch von außen kommen. Die Brexit-Entscheidung in Großbritannien resultiere mitunter daraus, weil bei vielen Menschen der Eindruck entstand, dass Europa sie nicht beschütze. Die Modalitäten des Austritts würden, so Barnier, „ohne ein Gefühl der Revanche oder den Wunsch der Bestrafung“ ausgehandelt – „ aber auch ohne Naivität“.

Ulrike Guérot, deutsche Politologin und Gründerin des European Democracy Lab, sprach sich für ein demokratischeres, sozialeres und partizipativeres Europa aus: Eine neue Legitimierung einer politischen EU sei nötig: „Nicht die Staaten sind souverän, sondern die Völker, wenn die Bürger das Projekt der Gleichheit aller vor dem Gesetz, von der Wahl bis zur Besteuerung, tragen und gemeinsam eine Republik gründen.“

Der Präsident und Gründer des Think Tanks GénérationLibre Gaspard Koenig betonte wiederum die Grundsätze der Liberalität und des Schutzes individueller Rechter, auf denen Europa beruhe: Ziel dürfe nicht eine völlige Harmonisierung sein, sondern die steuerliche Autonomie. Auch halte er eine „Obsession des deutsch-französischen Paares“ für gefährlich mit Verweis auf die Lebendigkeit, mit der Europa in vielen östlichen Ländern wahrgenommen werde – gerade dort, wo der russische Druck stärker spürbar sei. „Sowohl bei den Anti-Korruptions-Demos in Rumänien als auch bei den Protesten auf dem Maidan-Platz in der Ukraine wehten europäische Flaggen.“

Im Publikum wies der Universitätsprofessor Henri Ménudier darauf hin, dass sich bei den Europawahlen 2019 eine EU-feindliche Mehrheit durchsetzen könnte, wenn fundamentale Reformen ausblieben. Michel Barnier bestätigte, Skepsis müsse ernst genommen werden: „Auch wenn in Frankreich gerade ein pro-europäischer Präsident gewählt wurde, dürfen alle, die nicht auf dieser Linie liegen, nicht übersehen werden.“ Populisten, die behaupten, Nationen zu einen, spalteten diese im Grunde, ergänzte Ulrike Guérot: Ein Europa, das die Menschen repräsentiere, müsse diese auf einer gemeinsamen Basis zusammenbringen.

In einer zweiten Podiumsdiskussion wurde die Frage nach Zukunftslösungen hinsichtlich des Wachstums, der Reformen und des Außenhandels in Europa gestellt. Momentan seien große Hoffnungen spürbar, sagte Professor Christoph M. Schmidt, Vorsitzender des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland. „Das Nein, das der Euroskeptizismus in Frankreich bekommen hat, sollte man nun nutzen und ökonomische Fehler vermeiden, wie sie in der Vergangenheit gemacht wurden.“ Die expansive Geldpolitik der EZB habe ihre Ziele erreicht, aber für langfristigen Erfolg müssten Kraft und Potenzial der Volkswirtschaften steigen. „Da Europa Kraft aus seiner Vielfalt schöpft, sollte das Prinzip der Subsidiarität eingehalten werden“, ergänzte Prof. Schmidt. „Fiskalpolitik bleibt nationale Angelegenheit, solange die Bürger nicht bereit sind, die Entscheidungsgewalt auf europäische Ebene zu übertragen.“ Von der Klimapolitik über den Umgang mit Flüchtlingen bis zu einer unabhängigen Bankenaufsicht könne aber viel gemeinschaftlich Ebene beschlossen werden.

Christian de Boissieu, Universitätsprofessor und ehemaliger Präsident des Wirtschaftsanalyse-Institutes CAE, bestätigte die Notwendigkeit struktureller Maßnahmen in vielen EU-Ländern, um das potenzielle Wachstum zu erhöhen. In Frankreich stehe eine Reform des Arbeitsmarktes an, der die Gewerkschaften offen gegenüberstünden. Dabei dürfe nicht Flexibilität vor Sicherheit der Arbeitnehmer gehen – beides müsse gleichzeitig festgelegt werden. Da Strukturreformen aber nicht kurz- sondern erst längerfristig einen Rückgang der Arbeitslosigkeit erbrächten, brauche es viel Pädagogie seitens des Präsidenten und der Regierung. Macrons Vorschläge zur Reformierung der europäischen Institutionen begrüßte de Boissieu grundsätzlich: „Der Status Quo ist keine Option, um nicht regelmäßig in neue Krisen zu geraten und mir ist es lieber, vorwärts zu gehen als zurück.“ Eine mikroökonomische Perspektive steuerte Elizabeth Ducottet bei, Präsidentin der Thuasne-Unternehmensgruppe. „Was wir uns von der Politik wünschen, sind gemeinsame Regeln auf europäischer Ebene, denen wie bei einem Fußball-Spiel alle Beteiligten gleichermaßen unterliegen.“ Der Mittelstand könne sich jeweils gut an Reglementierungen anpassen, aber die europäische Industrie brauche grundsätzlich einen gewissen Schutz.

Ludovic Subran, Chef-Ökonom bei Euler Hermes, sprach sich für mehr Protektionismus in Europa und einen „Buy European Act“ aus. Man sei in der Vergangenheit zu naiv gewesen: „Vertrauen wurde durch Regeln ersetzt, dabei sind die Unternehmen längst europäischer als die Staaten.“ In Europa herrsche noch zu wenig Mut und Selbstbewusstsein, trotz der starken, erfolgreichen Währung und vieler ökonomischer Trümpfe, angesichts der „wir uns nicht verstecken brauchen“. In einer dritten Podiumsdiskussion richtete sich der Blick auf die Digitalisierung als Chance für Europa. Das Verhalten des US-Präsidenten Donald Trump zwinge zu einer gemeinsamen Diplomatie, sagte Thierry Breton, Vorsitzender und CEO von Atos: „Wir müssen uns mehr auf Europa besinnen – das gilt ebenso für die digitale Wirtschaft.“ Diese öffne große Chancen, auch für die Reindustrialisierung. Atos, das eine enge Partnerschaft mit Siemens pflegt, rekrutiere weltweit Experten im Bereich der IT-Sicherheit und bemühe sich, ein attraktiver Arbeitgeber zu sein. „Viele Ingenieure wollen heute gar keinen unbefristeten Vertrag, sie ziehen Unverbindlichkeit vor.“ Investitionen in Innovation seien wesentlich, erklärte Ilan Benhaim, Mitgründer und geschäftsführender Direktor von Vente-privée.com. „In der weltweiten Konkurrenz, wo Grenzen nicht mehr existieren, gerade im Bereich der digitalen Wirtschaft, unterscheidet man nicht mehr zwischen großen und kleinen Unternehmen, sondern zwischen schnellen und langsamen. Heute gibt es Akteure, die groß und schnell sind wie Facebook oder Google, die in Innovation über-investieren.“ Benhaim zeigte sich zuversichtlich für die Zukunft der europäischen Digitalwirtschaft: „Aber es geht noch nicht schnell genug und es werden weniger Risiken eingegangen als in den USA.“ Auch bei der Unternehmensgründung könne man sich dort mitunter ein Beispiel nehmen, ergänzte Christophe Fourtet, Mitbegründer und wissenschaftlicher Direktor des Telekommunikationsunternehmens Sigfox: „Ich habe gelernt, dass man auch Fehler zulassen muss, wenn es schnell gehen soll, um dazuzulernen.“

Geschwindigkeit sei alles, bestätigte Frauke Mispagel, Managing Director bei Axel Springer Plug & Play, die erklärte, dass sie Startups bei der Beratung daher diesen Tipp mitgebe: „Es ist der falsche Ansatz, ein erstes Produkt so perfekt wie möglich zu machen. Man muss es sehr schnell testen, um zu vermeiden, dass man ein Produkt herstellt, das vielleicht perfekt ist, das dann aber vielleicht gar keiner haben will.“ Hilfreich wäre, wenn auch in die Regierungsebene mehr Geschwindigkeit komme, so Mispagel. Und das gelte auch für Entscheidungen auf europäischer Ebene.