Chancengleichheit: Vorbilder weiblicher Führungskräfte im deutsch-französischen Wirtschaftsumfeld.

19.12.2022

Interview mit Catherine Gras, Geschäftsführerin von Storengy Deutschland und Vorstandsvorsitzende von Storengy UK

1. Frau Gras, Sie sind eine erfolgreiche Frau in der Industrie. Könnten Sie uns kurz Ihren Werdegang beschreiben?

Nach einem Masterabschluss der ESSEC Business School begann meine Karriere eher finanzorientiert, zunächst bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG und dann bei einem Investmentfonds. Im Jahr 2001 entschied ich mich, in den Energiesektor einzusteigen.  In der ENGIE-Gruppe besetzte ich verschiedene Rollen im Bereich Mergers & Acquisitions und später als CFO einer Business Unit. Seit 2016 bin ich Geschäftsführerin von Storengy UK Ltd, wo ich weiterhin den Vorsitz des Verwaltungsrats führe. Im Oktober 2018 wurde ich als Geschäftsführerin bei Storengy Deutschland GmbH ernannt.

2. Worauf konzentrieren Sie sich heute in Ihrer Arbeit?

Als Leiterin eines Unternehmens im Energiesektor beschäftigen mich derzeit zwei Schwerpunkte besonders. Zuerst die Transformation eines Unternehmens mit einem Kerngeschäft in fossilen Energieträgern hin zu erneuerbaren Energien und speziell zu grünem Gas. Dies setzt eine nachhaltige Bemühung voraus, diese Transformationsstrategie zu erläutern, um ihr Sichtbarkeit und Klarheit zu verleihen. Storengy ist eines der größten Gasspeicherunternehmen, wir richten heute unsere Strategie auf die Speicherung von Wasserstoff und die Erzeugung von Biomethan aus. Meine Arbeit konzentriert sich daher sehr stark auf Lobbying, Transformationsmanagement und die Kommunikation unserer Strategie.

Darüber hinaus stehen wir heute vor einer sehr großen Herausforderung: Wir befinden uns in einer der größten Energiekrisen, die es je gegeben hat. Unser Unternehmen steht im Zentrum der Bewältigung dieser Krise, und ich muss dazu beitragen, diese so gut wie möglich zu meistern. Diese Situation wird durch ein turbulentes - europäisches und nationales - Gesetzesumfeld besonders komplex, was eine weitere Herausforderung für unser Geschäft darstellt.

In diesem Zusammenhang muss ich den Übergang unserer Strategie leiten und die kurzfristige Krise mit all meiner Energie und viel Ausdauer bewältigen.

3. Was waren die größten Herausforderungen in Ihrem Berufsleben, und wie haben Sie diese bewältigt?

Nach mehreren Jahren bei einem Investmentfonds sah ich mich mit einem Wertekonflikt konfrontiert: Ich stellte mir die Frage nach dem Sinn meiner Arbeit. Es war ein spannender Beruf, aber ich fand mich nicht mehr darin wieder und beschloss daher, den Sektor zu wechseln: Ich ging in die Industrie, genauer gesagt in den Energiesektor, den ich für unsere Gesellschaft und unsere Wirtschaft für sehr wichtig halte. Das war eine schwierige Entscheidung, denn mein Karriereweg in dem Investmentfonds, in dem ich mich befand, war bestens geebnet, ich befand mich auf einem klaren Pfad. Außerdem bedeutete dies eine starke Gehaltskürzung. Es war eine Entscheidung, die für mein Berufsleben strukturierend war.

Einen zweiten beruflichen Wendepunkt erlebte ich vor etwa zehn Jahren. Zu diesem Zeitpunkt war ich CFO einer Geschäftseinheit mit klaren Entwicklungsperspektiven in einer solchen Funktion. Dann kam es zu einer internen Reorganisation ... und meine Stelle wurde gestrichen. Nach einer etwas schwierigen Phase bekam ich eine echte Chance, eine neue Phase meiner Karriere einzuleiten, indem ich aus den Finanzfunktionen heraustrat und operative Verantwortung übernahm.

Heute, mit der Erfahrung von zwei Geschäftsführungen, betrachte ich diese Entscheidungen als die beiden Höhepunkte meiner persönlichen und beruflichen Entwicklung. Beide waren nicht einfach, aber indem ich anfänglich ungünstige Situationen positiv umgestaltet habe, ist es mir gelungen, meinen Weg zu finden. Als Geschäftsführerin eines Energieunternehmens habe ich meiner Tätigkeit einen Sinn gegeben und kann Einfluss auf den Wandel in diesem Sektor nehmen.

4. Insbesondere der Energiesektor ist sehr männerdominiert. Welche Fähigkeiten muss eine Frau haben, um eine hochrangige Position zu besetzen?

Es ist tatsächlich ein sehr männerdominierter Sektor und in Deutschland noch mehr als in Frankreich oder England, wo ich zuvor gearbeitet habe. Wie bereits ganz zu Beginn unseres Interviews erwähnt, habe ich keine Ingenieursausbildung und arbeite dennoch in einer Branche, in der dies oft als unerlässlich angesehen wird. Ich denke, dass man für einen Posten in der Geschäftsführung vor allem eine globale Vision des Unternehmens und die Fähigkeit haben muss, sich auszutauschen und alle technischen, kommerziellen, finanziellen ... Problematiken des Unternehmens zu verstehen. Durch die Öffnung der Einstellung für Nicht-Ingenieure kann man die Unterrepräsentation von Frauen in diesem Sektor in Deutschland zum Teil lösen.

5. Was kann getan werden, um mehr Frauen in Führungspositionen zu bringen? Welche Maßnahmen wären vorteilhaft?

Die ENGIE-Gruppe, zu der auch Storengy gehört, hat sich im Rahmen eines "fifty fifty"-Programms ein sehr ehrgeiziges Ziel für die Gleichstellung der Geschlechter gesetzt. Dies ist eine sehr bedeutende Herausforderung, die Fortschritte in vielen Bereichen voraussetzt.

Es muss viel Arbeit in die Einstellungspolitik investiert werden, um die Qualitäten zu definieren, die für eine bestimmte Stelle erwartet werden, und die Einstellungen für verschiedene Arten von Ausbildung und beruflichen Werdegängen zu öffnen.

Man muss auch junge Mädchen für technische oder wissenschaftliche Berufe begeistern, in denen sie immer noch in der Minderheit sind, indem man im Vorfeld in Schulen und bei Studentenforen interveniert.

Es müssen auch große Anstrengungen unternommen werden, um Frauen für die Übernahme von Positionen mit hoher Verantwortung zu begeistern. Frauen, die heute in solchen Positionen sind, können dazu beitragen, junge Frauen zu inspirieren, indem sie von ihren Erfahrungen berichten und zeigen, dass dies nicht außergewöhnlich ist.

Bleibt noch die Lösung mit den Quoten. Ich glaube nicht, dass wir heute auf diese Lösung verzichten können, wenn man bedenkt, wie langsam sich die Veränderungen in den letzten 20 Jahren vollzogen haben.  Aber man muss sie nutzen und intelligent darüber kommunizieren, um zu verhindern, dass sie sich gegen die Frauen selbst richten. "Ich bin eine Frau und nicht weil es eine Quote gibt, bin ich in dieser Position, sondern weil ich sie verdient habe" - das ist es, was wir erfolgreich umsetzen müssen.

6. Welchen Rat können Sie jungen Frauen geben, die eine Karriere anstreben?

Eine Frau, die eine berufliche Karriere anstrebt, muss an sich und ihre Fähigkeiten glauben und sie selbst bleiben. Die Unternehmenswelt bleibt eine "genderisierte" Welt mit ihren männlichen Codes und Verhaltensweisen, aber man kann auch dort erfolgreich sein, wenn man seine eigenen Ausdrucksweisen, seine weiblichen Aspekte beibehält.

Egal, ob man eine Frau oder ein Mann ist, man muss in der Lage sein, verbindliche persönliche Entscheidungen zu treffen und sich für verschiedene Perspektiven zu öffnen, um Fortschritte zu machen. In diesem Zusammenhang möchte ich die Offenheit gegenüber anderen Ländern betonen. International oder in einem internationalen Kontext zu arbeiten, ist sehr bereichernd und kann die Karriere beschleunigen.

Ich möchte mit einem Punkt abschließen, der mir besonders wichtig erscheint. Eine Karriere zu managen ist wie eine sportliche Aktivität auf Dauer zu managen: Alles ist eine Frage der Energie. Seien Sie wachsam. Eine Spitzenposition erfordert einen hohen Energieaufwand, man muss wissen, wie man damit auf Dauer umgeht und wie man diese so wertvolle Kraft, die uns trägt, regelmäßig nähren kann.

7. Inwieweit setzen Sie sich für die deutsch-französischen Beziehungen ein?

In 2020 wurde ich als Außenhandelsberaterin für Frankreich ernannt. Das ist eine freiwillige Aufgabe, bei der ich jungen Franzosen und Unternehmen helfe, sich in Deutschland niederzulassen. Weiterhin arbeite ich eng mit der französischen Botschaft in Berlin zusammen, um gemeinsame Energiethemen für beide Länder zu behandeln.

Das Interview führte Alexandra Seidel-Lauer